Zur Entstehungsgeschichte

 

100 Jahre nach der ersten Begegnung von Valborg Werbeck-Svärdström mit Rudolf Steiner

von Thomas Adam

 
Es war im Jahr 1912, als die schwedische Sängerin Valborg Svärdström Rudolf Steiner begegnete. Wie sie im Vorwort zu Ihrem Buch `Die Schule der Stimmenthüllung´[1] schildert, kam dabei Rudolf Steiner auf sie zu und sprach sie auf recht ungewöhnliche Weise an: “… was haben Sie für einen wunderschönen Ätherkehlkopf! Ich will nicht unbescheiden sein, aber es scheint mir, Sie singen so, wie ich spreche. Und nicht wahr, würde man nicht so – mit sublimierter Luft – sprechen und singen, so könnte die Kehle den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht gewachsen sein?“ – Rudolf Steiner hielt zeitlebens mehr als 5600 Vorträge[2], Valborg Werbeck-Svärdström gab über 3000 Konzerte!

Diese von Rudolf Steiner `hingeworfenen´ Worte waren für die damals schon suchende Sängerin, wie sie selber schreibt, `eine lange Zeit hindurch Wegzehrung´[3], ließen sie doch ahnen, dass ihre Forschungs-Arbeit eine prinzipielle Bedeutung haben könnte und dass da jemand war, der sie verstehen und unterstützen könnte.

Nun befand sich Rudolf Steiner in dieser Zeit selber auf einem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens: in seiner Funktion als Leiter der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft gestaltete er seit 1907 die jährlichen Kongresse dieser Gesellschaft auf eine für die damalige Zeit völlig neue Weise, – vollkommen durchdrungen mit Kunst.[4]

Ab 1910 wurden die von ihm gedichteten Mysterien-Dramen aufgeführt. Die Schauspielkunst, Sprachgestaltung, auch Malerei und Architektur (zunächst für die Gestaltung der Innenräume) schließlich auch die Bewegungskunst in der Form der ersten Ansätze für die Eurythmie, alle diese Künste bekamen damals wichtige Impulse. – Und dies ereignete sich zunächst im Wesentlichen in München, wo bedeutende Künstler dieser Zeit wirkten und sich in einer ungeheuren Aufbruchs-Stimmung befanden. – Die Fragen nach der Erneuerung der Künste und insbesondere auch der sozialen Lebensformen vibrierten ja in allen kulturellen Zentren Europas![5]

Auf einen wichtigen Zusammenhang der Gesangskunst und einer fundamentalen Frage des sozialen Lebens wies Rudolf Steiner mit einem Wort, das Valborg Werbeck-Svärdström im Kapitel `Ausklang´ ihres Buches erwähnt: „Als die Schreiberin dieser Zeilen, müde des modernen Kunstbetriebes und der öffentlichen Tätigkeit, Rudolf Steiner gegenüber einmal ihrem Überdruss Ausdruck gab, äußerte er aus dem nie versiegenden Born seiner Güte die versöhnenden und aufrichtenden Worte: „Wenn die Menschen singen würden, mehr singen würden und vor allem richtiger singen würden, gäbe es weniger Verbrechen auf dieser Erde.“

Wann immer es die umfänglichen Reisen der beiden Persönlichkeiten erlaubten, fanden während zwölf Jahren Unterredungen statt, bei denen die Sängerin aus ihrem Forschen berichten konnte, und sowohl Bestätigungen ihrer eigenen Ergebnisse als auch Anregungen und Aufgaben für die weitere Arbeit erhielt.

In einer letzten Besprechung im Anschluss an die Weihnachtstagung 1924/25, wurde sie schließlich von Rudolf Steiner dazu autorisiert, die Gesangpädagogik auf anthroposophischer Grundlage zu vertreten[6].

So entstand, auf der Grundlage ihrer künstlerischen Tätigkeit, die sie bis 1931 fortsetzte, durch ihr persönliches Forschen und mit der Zusammenarbeit und Hilfe von Rudolf Steiner, eine Menschenkunde des Singens, die Valborg Werbeck-Svärdström 1938 als ihr Buch `Die Schule der Stimmenthüllung ́ veröffentlichte.

In den eingangs erwähnten Worten von Rudolf Steiner ist ein wichtiger Fingerzeig für die Erneuerung der Gesangskunst verborgen: der Prozess der `Sublimierung der Atmung´. Dieser Hinweis findet eine Ergänzung in einem Vortrag Rudolf Steiners in dem er anregt, Bewusstsein für die Überleitung des Stimm-Klanges auf die umgebende Luft und das Ätherische des Umkreises zu entwickeln[7].

Damit wurden auf dem Gebiet des Gesanges Fragestellungen eröffnet, die heute als große Fragen allgegenwärtig sind. Denn die Frage nach dem Anteil des Ätherischen im Stimmklang weist weiter auf die komplexen Probleme, die sich im Zusammenhang mit den aufbauenden und gesundenden Lebenskräften im Menschen und in der Natur stellen.

Und die Fragen nach der Wahrnehmungsfähigkeit und dem Bewusstsein für die Vorgänge im Umkreis des Singenden sind nicht nur für die `Enthüllung der Stimme´ von grundlegender methodischer Bedeutung, sondern sie deuten auf die Voraussetzung für die Bildung sozialer Fähigkeiten! – Wie sollte jemand, ohne Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit für seinen Umkreis sich in seiner sozialen Kompetenz entwickeln?

Nur durch eine Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit wird auch wahres Interesse erwachen. Und nur durch Interesse wird sich allmählich eine Kultur der Brüderlichkeit entwickeln. – Wie aber kann die Fähigkeit zu differenzierterem Wahrnehmen entwickelt werden? – Durch künstlerische Übung![8]

Nun geht die stimmbildnerische Arbeit im Sinne der Schule der Stimmenthüllung absolut von einer Schulung des Hörens aus und kann sich in diesem Ansatz durch modernste Forschungs- Ergebnisse bestätigt sehen.[9] Mit der Intensivierung der Aufmerksamkeit auf die selbst hervorgebrachten Töne und Laute, begibt sich der Studierende auf einen künstlerischen Erkenntnisweg, auf dem er nicht nur die Elemente des Gesanges, Atem, Klang, Laute und Tonwelt im Hinblick auf ihre grundlegenden Phänomene ergründet, sondern dabei auch im Sinne des anthroposophischen Schulungsweges in der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen die eigenen seelischen Grundkräfte, Denken, Fühlen und Wollen ausbildet.

In dem Maße, wie der Studierende sich lauschend-singend den Urphänomenen seiner eigenen Stimme annähert, werden die immer reiner erscheinenden, (enthüllten) Klänge, Laute und Töne in ihr selbst und damit auch in seiner gesamten leiblichen und seelischen Organisation belebend und gesundend wirksam.

Dass in der Darstellung des Klang-Elementes von Valborg Werbeck-Svärdström eine Dreigliederung in funktionalem Zusammenhang mit der allgemeinen Dreigliederung der leiblichen und seelischen Organisation des Menschen beschrieben und als differenzierter Schulungsweg erschlossen wurde, ist in der Welt des Gesanges ein einmaliger Vorgang und von größter Bedeutung. – Es singt der ganze Mensch, mit Leib, Seele und Geist!

Was ist nun, 100 Jahre nach der Begegnung der Sängerin Valborg Werbeck-Svärdström mit dem Geistesforscher Rudolf Steiner, aus dem durch diese beiden Persönlichkeiten vermittelten Impuls entstanden? – Wie entwickelt sich 40 Jahre nach dem Tode vom Valborg Werbeck-Svärdström ihre Gesangschule?

Vor dem inneren Blick des so Fragenden entsteht ein Bild von einem weit ausgedehnten Geflecht von Arbeits-Beziehungen von Singenden und Lehrenden, das heute wohl um die ganze Welt reicht und langsam aber stetig, man könnte sagen, organisch gewachsen ist und weiter wächst. Gewiss sind manche Gebiete (Afrika und Australien!) noch kaum berührt, aber zum Beispiel in einigen Ländern Südamerikas, auch in Japan und China und besonders in Russland und Nordamerika, und natürlich in Europa, gibt es Menschen und `Zentren´ die im Sinne der Schule der Stimmenthüllung arbeiten.[10]

Immer wieder ist es ergreifend, zu erleben, wie tief gerade die Menschen, die durch das Singen zum ersten Mal der Anthroposophie begegnen, berührt sind, weil sie durch den Gesang und die Musik sich selber und die Welt neu entdecken und tiefer verstehen können.

Sie erleben so etwas wie eine Quelle der Erneuerung für ihre eigenen Kräfte und für die Entwicklung einer wahrhaft menschlichen, den brutalen Materialismus unserer Zeit überwindenden Kultur.

Vom 3. – 7. August 2012  hat nun, gemeinsam organisiert von der Sektion für redende und musizierende Künste und dem Verein zur Förderung der Schule der Stimmenthüllung, im Goetheanum in Dornach zum ersten Mal eine Tagung zum Thema `Die Welt des Singens´ statt gefunden!

Es wurden dort Einblicke in den Stand der Arbeit auf den Gebieten Kunst-Gesang, Gesangpädagogik und Gesangtherapie gegeben. Sechs Chöre ließen alte und neue Musik erklingen. Und es wurde viel gegenseitige Wahrnehmung ermöglicht.

Im November des Jahres 2012 fand nun im Quellhof in Mistlau/Deutschland die 30. Tagung für Gesangstherapie statt. Zudem haben außer in Deutschland auch in Brasilien und in Chile neue vier-jährige Kurse für Gesangstherapie angefangen.

Die künstlerischen Darbietungen der Solisten und der Chöre bei der Tagung in Dornach zeigten, dass  auf künstlerischem Gebiet besonders im Bereich der Schulung für Laien sehr vieles und positives geleistet wird.

Auf der Grundlage der gegenseitigen Wahrnehmung sind vielfältige Gespräche über den Stand und die weitere Entwicklung der anthroposophisch orientierten gesanglichen Impulse begonnen worden.

Über den kulturellen Beitrag, den sie in der allgemeinen, weltweit wahrnehmbaren Tendenz, dass wieder mehr gesungen wird, in Zukunft leisten sollten und über die immer deutlicher werdenden Fragenstellungen des Singens im Bereich der Kunst und der Therapie sollten bei zukünftigen Gesangs-Tagungen differenziert weiter gearbeitet werden. 

Thomas Adam ist seit 1979 als Gesangstherapeut im Sinne der Schule der Stimmenthüllung tätig und wirkt international als Dozent in Kursen für Gesang und Gesangstherapie. Seit 2001 leitet er die Berufsbegleitende Ausbildung für Gesangstherapie in Deutschland, Brasilien und den USA.

 

 

[1] Valborg Werbeck Svärdström; Die Schule der Stimmenthüllung, Verlag am Goetheanum, Dornach

[2] Gemäß Anthrowiki

[3] Siehe im unter 1 erwähnten Buch, Seite 31.

[4]  Siehe die Dokumentation `Anthroposophie wird Kunst ́ zum Münchner Kongress von 1907

[5]  Gemeint sind sowohl die Künstlerbewegung `Der blaue Reiter ́ als auch die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917/18 in Russland und Deutschland.

[6] Gemäß des Kapitels `Zur Biographie der Autorin ́ von J. Schriefer im unter 1 erwähnten Buch Seite 239

[7] Siehe dazu in Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 161, Vortrag vom 9. Januar 1915, Seite 23 und mehrere Stellen im unter 1 erwähnten Buch.

[8] Siehe dazu in Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 185, Vortrag vom 26. Oktober 1918, Seite 112.

[9] Gemeint sind die Forschungs-Ergebnisse von Dr. Alfred Tomatis, die heute grundlegend sind für viele Forschungen, die den Zusammenhang von Hörvorgang und Phonation untersuchen.

[10] Das Buch von Valborg Werbeck-Svärdström `Die Schule der Stimmenthüllung´ ist mittlerweile in den folgenden zehn Sprachen erschienen: Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Hebräisch, Holländisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch. (Stand 2012)