Stimmbildung oder Stimmenthüllung?
Was ist Ziel der Schulung, die eine so besondere Bezeichnung für ihr Vorgehen hat?
Gewaltfreies, liebevolles Umgehen mit dem Körper und der Stimme – ein Klärungsversuch:
Während der gängige Begriff Stimmbildung die Vorstellung impliziert, dass die Stimme gebildet, geschult, geformt oder trainiert werden muss, um überzeugend zu klingen, geht die Schule der Stimmenthüllung nach der schwedischen Sängerin Valborg Werbeck-Svärdström davon aus, dass die menschliche Stimme von Natur aus gesund und vollkommen ist, sofern keine physisch/organischen Schädigungen oder Defekte wie z.B. operative Eingriffe vorliegen.
Doch kann es im Laufe des Lebens aufgrund verschiedenster Ereignisse psychischer und physischer Art zu Verhärtungen, Verspannungen und Erkrankungen kommen, die sich, weil unser menschlicher Organismus eine Einheit ist, auch schädigend und beeinträchtigend auf die menschliche Stimme auswirken können. Durch gezielte Übungen nach der Schule der Stimmenthüllung wird versucht, hier heilend, lösend, belebend einzuwirken, so dass die Stimme wieder frei und ihrer ursprünglichen Schönheit gemäß strömen kann. Die Schulung, das Üben dient so dem Zweck, den Körper für die Töne durchlässig zu machen, so dass er ein wohltönendes natürliches Instrument wird, auf welchem die Seele spielen und im Gesang erklingen kann.
Der Fokus der Schule der Stimmenthüllung liegt nicht darauf, der Stimme irgendeine Klangvorstellung aufzudrücken, die vielleicht gerade dem ästhetischen Empfinden der Zeit oder des Lehrers entspricht und nicht der Konstitution des Schülers; auch will sie nicht einer Klangvorstellung gerecht werden, die eine gewisse Einseitigkeit oder Behinderung des lebendigen vollen Klangs zur Folge hätte. Das Ziel der Schule der Stimmenthüllung ist es vielmehr, die volle farbige Ausdrucksfähigkeit aller musikalischen Möglichkeiten einer gesunden Stimme zu ermöglichen. Dabei steht nicht der Singende in seiner Egoität im Vordergrund, sondern das in die Erscheinung-Treten eines Klanges, der so ungehindert wir möglich durch unseren Körper wie leibbefreit hindurchströmt.
Doch ohne die Persönlichkeit des Sängers geht es nicht. Und so deutet das Wort Person darauf hin, dass etwas „per-sonare“ = hindurch klingen kann, wenn der Mensch sein eigenes Gefäß seelisch und körperlich so durchgearbeitet hat, dass er die Fähigkeit gewonnen hat, Töne, Laute und Klänge durch sich hindurch klingen zu lassen, ohne sie zu behindern, zu verfälschen oder sinnwidrig zu färben.
Frau Werbeck beschreibt die Beschränkung eines Sängers auf ein bestimmtes Register bereits als ein Zeichen schwindender Fähigkeiten; früher hätten alle Sänger ein Spektrum von vier Oktaven zur Verfügung gehabt, was heutzutage ein Ausnahmephänomen besonders begabter Sänger sei. Eine nach der Schule der Stimmenthüllung befreite Stimme kann sowohl in der Höhe als auch in der tiefen Stimmlage Töne ohne Druck und in einer verständlichen Sprache erklingen lassen. Dazu gehört ein vertieftes Verständnis der Gesetzmäßigkeiten von Klang, Laut und Ton und ihrer physiologischen Entsprechungen, um in der Schulung das Richtige am rechten Ort zu üben: Der Wille darf nicht in die Atmung und den Klangstrom eingreifen, sondern hat seinen rechten Ort im Erüben der Sprache:
Damit das gesungene Wort hörbar und verständlich wird, muss man die Laute und Silben so geübt haben, dass sie ihrer Eigenart entsprechend deutlich erklingen können. Deshalb werden in der Schule der Stimmenthüllung sowohl die Vokale in ihren verschiedenen Farbnuancen als auch alle Konsonanten in differenzierter Art geübt und kennengelernt. Die Gestaltung eines Liedes, einer Arie soll sachgemäß, das heißt dem Inhalt angepasst sein und weder durch mangelnde Ausdrucksfähigkeit der Stimme eingeschränkt noch durch künstlich wirkende oder gar übertriebene Darstellung (zum Beweisen der eigenen Virtuosität) forciert werden.
Grundlage für einen natürlichen Umgang mit der Stimme ist eine gesunde Atmung. Frau Werbeck hat eine Fülle von genialen Übungen hinterlassen, durch welche die natürliche Funktion (Physiologie) der Atmung gefördert wird, ohne zu bewusst in den Atemprozess einzugreifen: Diese Übungen nennt sie “Übungen zum Vergessen des Atmens“. Sie berücksichtigt dabei selbstverständlich die beiden Konstitutionen des aktiven Einatmers und des aktiven Ausatmers gemäß vorliegender Konstitution des Schülers.
Die Ganzheitlichkeit der Schulung erfasst alle Ebenen der menschlichen Entwicklung: die Körperliche, die Seelisch-Charakterliche und die Geistig-Spirituelle.Umgesetzt wird diese individuell (auf die Bedürfnisse der Schüler eingehend) und auf unterschiedliche Weise (den Erfahrungen des einzelnen Lehrers und seiner Intuition entsprechend).In diesem Sinne gibt es kein starres, vorgegebenes Vorgehensschema: so verschieden die Menschen sind, so verschieden ist ihr Weg der Stimmenthüllung.
Regula Berger, Steffisburg (CH)